Community Building first, Decision Making second: Warum kluge Führung erst baut und dann entscheidet

Es klackt, es raschelt, und irgendwo fällt ein kleiner roter Stein zu Boden. Der große Holztisch im Seminarraum ist bedeckt mit bunten Lego-Steinen, Minifiguren, winzigen Türen, Antennen, Brücken.
Vor dir drei sehr unterschiedliche Bauwerke: ein futuristischer Turm mit einer Plattform ganz oben, eine bunte Brücke, die zwei völlig verschiedene „Inseln“ verbindet, und ein komplexes Labyrinth, in dessen Mitte eine goldene Kugel steht.

Die Modelle sind frisch entstanden, gebaut von drei Teams in einem Lego Serious Play Workshop. Keines gleicht dem anderen, und doch erzählen sie alle von derselben Frage: „Wie wollen wir in Zukunft zusammenarbeiten?“

Noch hat niemand über „die eine Lösung“ gesprochen. Stattdessen stehen hier gebaute Perspektiven: visuell, greifbar, emotional. Genau darin liegt die Kraft: Bevor eine Entscheidung fällt, hat das Team erst einmal eine gemeinsame Bilderwelt erschaffen.

So beginnt die Umsetzung des Prinzips, das in der Facilitation fast schon als Mantra gilt: 

Community Building first, Decision Making second.

In vielen Unternehmen läuft es jedoch genau umgekehrt. Man ruft ein Meeting ein, legt die Agenda auf den Tisch und fragt gleich nach Vorschlägen. Meist melden sich dieselben drei Leute zu Wort, während andere innerlich abtauchen. Das Ergebnis sind schnelle Entscheidungen, oft mit wenig Substanz. Spätestens bei der Umsetzung zeigt sich, was gefehlt hat: die Perspektiven derjenigen, die nie wirklich beteiligt waren.

Community Building heißt nicht, erst einmal Smalltalk zu machen. Es bedeutet, eine gemeinsame Basis zu schaffen, bevor Entscheidungen getroffen werden. Das kann heißen: erst alle Stimmen hören, bevor der erste Vorschlag bewertet wird. Das ganze Feld erfassen – auch Randaspekte, stille Sorgen und unerwartete Chancen – bevor man sich festlegt. Sichtbar machen, wie unterschiedlich Perspektiven sind, damit allen klar ist, worüber genau entschieden wird.

Lego Serious Play eignet sich dafür perfekt: Jede und jeder baut, jede und jeder erzählt, jede Stimme wird gehört. Wir kennen es aus Kindertagen, aber haben es als Erwachsene verlernt. Am Ende stehen gebaute Metaphern auf dem Tisch und ein gemeinsamer Bezugsrahmen, der allen gehört.

Die Frage, die Führungskräfte mir in diesem Zusammenhang oft stellen, lautet: „Ja, aber wo ziehe ich die Grenze? Was muss ich selbst entscheiden – und was lasse ich im Raum entstehen?“

Der entscheidende Unterschied

Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen klassischer Führung und Facilitative Leadership. Klassische Führung entscheidet nach Hierarchie und delegiert Details. Facilitative Leadership hingegen entscheidet bewusst, welche Fragen das Team mit all seiner Vielfalt besser beantworten kann als eine einzelne Person.

Dafür nutze ich drei Leitplanken, die aus der Facilitation-Lehre und der praktischen Erfahrung im Mittelstand stammen.

Leitplanke 1: Erst Beziehung, dann Entscheidung

In einem meiner Workshops mit einer Bereichsleitung war die Stimmung zu Beginn frostig. Die Themen waren brisant, der Zeitplan eng. Klassisch wäre man sofort in die inhaltliche Diskussion eingestiegen. Wir haben stattdessen 30 Minuten investiert, damit jede und jeder erzählen konnte, was sie oder ihn gerade im Arbeitsalltag am meisten beschäftigt, ohne Wertung, nur zum Zuhören.

Plötzlich war klar, dass viele Probleme gar nicht im Thema selbst lagen, sondern in Missverständnissen und alten Kränkungen. Erst danach ging es an die Entscheidungen und die wurden in einem Bruchteil der geplanten Zeit getroffen.

Leitplanke 2: Erfasse das ganze Feld, bevor du dich festlegst

In einem Produktionsunternehmen stand eine Investitionsentscheidung an. Der Chef wollte eigentlich sofort auf die Angebote schauen. Wir haben vorher das „Feld“ erfasst: Welche Kriterien sind uns wichtig? Wer ist vom Ergebnis betroffen? Welche Nebenwirkungen könnten auftreten?

Allein diese 20 Minuten „Feldarbeit“ brachten zwei völlig neue Aspekte auf den Tisch, die am Ende die Entscheidung maßgeblich verändert haben.

Leitplanke 3: Unterscheide Prozess- und Inhaltsverantwortung

Als Führungskraft bist du oft für den Prozess verantwortlich: Du hältst den Rahmen, sorgst für Struktur, klärst, wer beteiligt wird. Den Inhalt aber müssen nicht immer du oder deine engsten Berater bestimmen. In einem Digitalisierungsprojekt habe ich erlebt, dass die besten Lösungsdetails von den Maschinenbediener:innen kamen, weil sie täglich mit dem System arbeiteten.

Praxisbilder aus dem Mittelstand

Damit du dir vorstellen kannst, wie das in deinem Kontext aussieht, hier drei typische Anwendungsfelder.

  • Beim Strategie-Workshop starten wir nicht mit PowerPoint-Schlachten und endlosen Diskussionen, sondern mit einer kreativen Aufgabe, bei der alle zeigen, wie sie die aktuelle Lage sehen. Erst danach entwickeln wir strategische Optionen.
  • Beim Projekt-Kick-off geht es nicht darum, den fertigen Projektplan zu präsentieren und Aufgaben zu verteilen. Wir visualisieren zuerst gemeinsam das Zielbild – schriftlich, zeichnerisch oder gebaut – und legen erst dann fest, wie wir dorthin kommen.
  • Auch in einer Führungsklausur kann der Perspektivwechsel viel bewirken. Statt sofort zu fragen „Was wollen wir nächstes Jahr erreichen?“, beginnen wir mit der Frage „Was ist uns als Führungsteam wichtig, um unsere Leute zu stärken?“ und machen das sichtbar, bevor wir Ziele formulieren.

Das Mini-Framework: Drei Fragen für deine Führungsarbeit

Wenn du unsicher bist, ob eine Entscheidung bei dir oder im Raum entstehen sollte, helfen dir diese Fragen:

  1. Wer hat die meiste Erfahrungen zu diesem Thema – nicht: Wer hat die höchste Position?
  2. Welche Perspektiven fehlen, wenn nur ich entscheide?
  3. Was würde passieren, wenn das Team hier alleine die Entscheidung trifft?

Oft zeigt sich dabei: Viele Themen gewinnen, wenn sie im Raum entstehen. Manche aber brauchen klar deine Entscheidung, jedoch auf Basis eines reicheren Bildes.

Fazit: Räume vor Entscheidungen gestalten

Facilitative Leadership heißt nicht, Verantwortung abzugeben. Es heißt, Verantwortung bewusst zu teilen. Es heißt, Räume zu schaffen, in denen zuerst Verbindung entsteht und dann Entscheidungen fallen.

Community Building first, Decision Making second ist kein nettes Extra. Es ist der Unterschied zwischen schnellen Beschlüssen und tragfähigen Entscheidungen.

Reflexionsfrage: Wo könntest du in den nächsten vier Wochen bewusst erst Verbindung schaffen, bevor du entscheidest?

Mehr Impulse zu Facilitative Leadership findest du in meinen weiteren Blogartikeln hier. Wenn du wissen möchtest, wie du dieses Prinzip in deinem Unternehmen umsetzen kannst – ob in Strategie-Workshops, Projektstarts oder Führungsklausuren – lass uns reden! Ideen dazu auch gerne hier.

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